Sucht macht keine Corona-Quarantäne

Anlässlich des Bundesweiten Aktionstages „Suchtberatung kommunal wertvoll“ am 04.11.2020 unter Schirmherrschaft der Bundesdrogenbeauftragten machen wir auf die Situation von Suchtkranken und Suchtberatungsstellen in MV aufmerksam.
Viele Menschen trinken und rauchen seit der Corona-Krise deutlich mehr als zuvor. Das zeigt eine aktuelle forsa-Umfrage im Auftrag der KKH Kaufmännische Krankenkasse. Wenn Belastungsgrenzen vielfach überschritten werden und Bewältigungsstrategien fehlen, können Suchtmittel zur Kompensation dienen und zu einem problematischen Konsumverhalten führen.
Es kann damit gerechnet werden, dass die Zahl der Rückfälle steigen wird. Die Kombination aus Angst vor dem Unbekannten, Isolation, finanzieller Unsicherheit oder auch Langeweile sind das ideale Umfeld für Sucht.
Suchtberatung ist für viele ein Rettungsanker. Sie ist kostenfrei, niedrigschwellig und bei Bedarf wird auch anonym beraten. Für alle suchtgefährdeten und/oder abhängigkeitskranken Menschen wie deren Angehörige müssen in den Kommunen vergleichbare Voraussetzungen zur Inanspruchnahme einer Suchtberatung bestehen.

Studie belegt: Corona-Lockdown fördert Suchtverhalten
Bereits aus früheren Epidemien ist bekannt, dass Stress durch massiv eingeschränkte soziale Kontakte riskanten Konsum und Suchtverhalten fördern kann. Diese Gefahr besteht auch in der aktuellen COVID-19-Pandemie, wie eine Studie, die vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) Mannheim und der Universitätsklinik Nürnberg initiiert wurde, belegt. In der Studie wurde die Veränderung der Alkohol- und Tabakkonsumgewohnheiten während des Lockdowns erfragt. Demzufolge trinken 37,4 Prozent der Befragten seit Beginn der Beschränkungen mehr Alkohol. Bei 42,7 Prozent der Studienteilnehmenden ist der Tabakkonsum gestiegen. Die Befragung zeigt, wie wichtig es ist, über Risiken und mögliche Langzeitfolgen zu informieren sowie niederschwellige Hilfsangebote vorzuhalten. Publikation im Deutschen Ärzteblatt

Suchtberatung als verlässlicher Garant von Hilfe in der Krise
Als Selbsthilfegruppen ausfielen, Tagesstätten und Tafeln geschlossen waren, wurden die Beratungsstellen für den erheblichen Teil unserer Betreuten, der sozial entwurzelt ist und in prekären Wohnverhältnissen lebt, oft zum einzigen verlässlichen Bezugspunkt.
Das Hilfesystem braucht die Entlastung durch die Suchtberatungsstellen! Die Gesellschaft braucht die Entlastung durch das Suchthilfesystem.
In Mecklenburg-Vorpommern schätzen wir 100.000 -150.000 Suchtkranke bzw. Suchtgefährdete.
In den Suchtberatungsstellen in MV werden leider nur etwa 10.000 Suchtkranke/Suchtgefährdete jährlich betreut, das sind nur 6-10% der Gefährdetengruppen. Die Experten in MV sind sich sicher, dass mehr Suchtkranke die Beratung in Anspruch nehmen würden, wenn die Angebotskapazitäten erweitert würden.
Damit die Suchtberatungsstellen für suchtgefährdete und/oder abhängigkeitskranke Menschen sowie deren Angehörige weiterhin die zentrale und hilfreiche Anlaufstelle in den Kommunen bleiben und helfen können, Verelendung und Gewaltspiralen in Familien zu verhindern, sowie einen Beitrag zur öffentlichen Sicherheit zu leisten, wird eine verlässliche Finanzierung und eine angemessene Fachkraftquote unbedingt erforderlich!

Auskömmliche Finanzierung ist unabdingbar
Suchtberatung braucht mehr Perspektive! Sie ist eine wertvolle kommunale Pflichtaufgabe, die freie Träger seit Jahren übernehmen und für die sie erhebliche Eigenmittel aufbringen müssen. Viele Träger halten mehr als 25 bis zu 40 % Eigenmittel an einer Suchtberatungsstelle, um die Suchtberater auskömmlich zu entgelten! Das ist weder hinnehmbar noch leistbar!
Der hohe Eigenmittelbedarf entsteht u.a., weil die öffentlichen Zuwendungsgeber die tatsächlichen Personalkosten der Mitarbeitenden nicht vollständig anerkennen, obwohl diese nach den für den Träger bindenden Tarifverträgen entsprechend ihrer Qualifikation und Betriebszugehörigkeit bezahlt werden.
Viel wäre schon geholfen, wenn die tatsächlich anfallenden Personal- und Sachkosten, soweit sie nachvollziehbar sind bzw. auf gesetzlichen bzw. tarifrechtlichen Grundlagen beruhen, auch anerkennungsfähig wären. Eine 90%ige Förderung der tatsächlichen Gesamtkosten wäre das Mindeste.

Ausreichende Anzahl von Fachkräften erforderlich
Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen und Experten fordern eine Fachkraftquote von 1: 10.000.
In Mecklenburg-Vorpommern gibt es 26 Suchtberatungsstellen, mit ihren Außenstellen und Außensprechstunden an weiteren 34 Standorten. Insgesamt sind etwa 70 Vollzeitkräfte in Mecklenburg-Vorpommern als Suchtberater tätig. Das entspricht einer Fachkraftquote von durchschnittlich nur 1: 22.500.
Dabei variieren die Fachkraftquoten von 1: 16.800 im Landkreis Vorpommern Greifswald bis 1: 31.350 im Landkreis Nordwestmecklenburg. Auch das zeigt ein Dilemma auf.
Wir schließen uns der Forderung nach einer höheren Fachkraftquote an!
Die eingesetzten Fachkräfte sind an ihren Kapazitätsgrenzen. Lange Wartezeiten auf ein Erstgespräch verzögern den Weg aus der Sucht und verlängern das Leid der Betroffenen und Angehörigen.

Volkswirtschaftlicher Nutzen von Suchtberatung ist enorm
Repräsentative Studien zum volkswirtschaftlichen Nutzen von Suchtberatungsstellen haben ergeben, dass jeder eingesetzte Euro, der von der öffentlichen Hand in die Beratungs- und Behandlungsstellen investiert wird, Kosten in Höhe von 28 € vermeidet. Die Investitionen in die Förderung von Suchtberatung lohnt sich sowohl wirtschaftlich, als auch im Hinblick auf die Lebensqualität und die Gesundheit der Betroffenen und derer Familien.

Aktionen am Bundesweiten Aktionstag „Suchtberatung kommunal wertvoll“
Die Mitarbeiter*innen in den Beratungsstellen unterstützen diesen Aktionstag mit einem Foto- Aufruf, auf welchem sie vor ihren Suchtberatungsstellen am 04.11.2020, kurz vor 12 Uhr treten und entsprechend des bundesweiten Notrufes für MV sich bekennen und fordern:

  • Suchtberatung notwendiger denn je zu CORONA –Zeiten „Wir sind da: jetzt auch digital“
  • 10.000 Suchtkranke und Angehörige werden jährlich in ihren Beratungsstellen in MV beraten und betreut und brauchen die volle und noch mehr fachliche Unterstützung und Perspektive
  • Notruf zur chronischen Unterfinanzierung und mangelnder Fachkräftequote in MV- zu wenig Geld und Akzeptanz für die Suchtberatungsstellen in MV

Die Suchtberatungen haben viele Angebote und Potentiale, die die 100.000- 150.000 Suchtkranken, Suchtgefährdeten in MV und ihren Freunden und Familienmitgliedern immer wieder bei einer neuen Arbeits- , Lebens-, und Partnerbeziehung unterstützen.
Unterstützen Sie nun unsere Arbeit und Perspektive für den Erhalt und Ausbau der Angebote in MV.